Play all audios:
------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Das Bundesverfassungsgericht hat klare Grenzen für Zwangsbehandlungen von
Patienten im sogenannten Maßregelvollzug gesetzt. Sofern nicht andere Menschen gefährdet sind, kann ein Betroffener nicht gegen seinen Willen mit Medikamenten behandelt werden. Das geht aus
einem am Freitag in Karlsruhe veröffentlichten Beschluss hervor._ (Az. 2 BvR 1866/17 u.a.)_ Grundsätzlich könne jeder gemäß Grundgesetz frei über Eingriffe entscheiden. In Verbindung mit der
Menschenwürde ergebe sich daraus eine »Freiheit zur Krankheit«, wie es das Gericht formuliert. Im Maßregelvollzug werden psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter untergebracht. Sie
kommen dann zum Beispiel in eine Psychiatrie oder Entzugsklinik statt in ein Gefängnis. Das Gericht hat sich mit zwei Verfassungsbeschwerden eines Mannes aus Bayern beschäftigt, der seit
Oktober 2015 in einem Bezirkskrankenhaus untergebracht ist. Dort wurden ihm gegen seinen Willen Neuroleptika verabreicht. Die Ärztinnen und Ärzte begründeten dies mit seiner Schizophrenie
und mit Hirnschäden, die sie vermeiden wollten. WIEDERHOLTE ANGRIFFE AUF PFLEGEPERSONAL Im Ausgangsfall war der Mann durch ein Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom Januar 2017 in einem
psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden. Der Grund: Er hatte im Oktober 2015, wie es im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts heißt, »aufgrund einer wahnhaften Störung im Zustand
der Schuldunfähigkeit« mit einem Besteckmesser auf den Brustkorb eines Wohnungsnachbarn eingestochen und versucht, diesen zu töten. Der Nachbar trug nur oberflächliche Verletzungen davon –
nach den Feststellungen des Landgerichts Nürnberg-Fürth hielt der Mann das Besteckmesser aber für geeignet, den Nachbarn zu töten, und er wollte ihn auch töten. Nach dem Gutachten eines
Sachverständigen leidet der Mann unter einem paranoiden Wahnerleben: So sah er sich als Opfer einer Intrige von Geheimdiensten, Satanisten und Illuminaten; er habe 28 Väter und müsse seine
Gegner töten, um das Böse zu besiegen. Auch nach seiner Festnahme und einer vorübergehenden Unterbringung in der Psychiatrie griff der Mann wiederholt Pflegepersonal tätlich an. Schon damals
ordnete ein Gericht Zwangsbehandlungen an, gegen die sich der Mann mit einer Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzte. Solch eine Zwangsbehandlung, entschied nun das Bundesverfassungsgericht,
kann prinzipiell angemessen sein. Die zuvor damit befassten Gerichte hätten dies aber umfassender und eingehender prüfen müssen. »BLOSSE STANDARDSÄTZE REICHEN NICHT AUS« In diesem Fall hatte
der Kläger im Jahr 2005 schriftlich eine Art Patientenverfügung hinterlegt, er traf insbesondere Anordnungen zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen und setzte seine
Mutter als bevollmächtigte Vertreterin ein. Anfang 2015 untersagte er ergänzend die Gabe von Neuroleptika gegen seinen Willen. Das Bezirkskrankenhaus beantragte im September 2016 dennoch die
Zwangsbehandlung mit Neuroleptika. Das Landgericht erteilte dafür die Erlaubnis, 2017 wurde auch Erlaubnis zur Verlängerung der Medikamentengabe erteilt. Der Karlsruher Rechtsanwalt David
Schneider-Addae-Mensah machte im Namen des Mannes unter anderem geltend, dass die Zwangsbehandlung hier »unverhältnismäßig« sei; »bloße Standardsätze wie Gesundheitsgefährdung und
Rechtsgütergefährdung reichen nicht aus«, so Schneider-Addae-Mensah in seiner Verfassungsbeschwerde. Hierbei sei auch »das grundsätzliche Recht des Einzelnen zur Krankheit zu beachten« –
eine »bloße Verschlimmerung einer möglichen, jedoch keineswegs erwiesenen, Grunderkrankung reicht jedenfalls nicht«. Die Gesundheitsgefährdung durch das eingesetzte Präparat sei »in jedem
Fall höher, und vor allem ist sie – im Gegensatz zur möglichen Erkrankung – nicht gewollt«. Das Bundesverfassungsgericht stellte nun klar: »Jede medizinische Behandlung einer Person gegen
ihren natürlichen Willen greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein.« ZWANGSBEHANDLUNG ALS »LETZTES MITTEL« Ein Eingriff in die Grundrechte des Mannes könne zwar
gerechtfertigt sein, etwa um Mitarbeiter oder andere Patienten oder ihn sogar vor sich selbst zu schützen. Eine Zwangsbehandlung sei dabei aber »letztes Mittel« und dürfe nur eingesetzt
werden, »wenn mildere Mittel nicht (mehr) in Betracht kommen und eine weniger in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Behandlung mithin aussichtslos ist«, so die Richterinnen und
Richter des Zweiten Senats in ihrem Beschluss. Weitere Voraussetzungen seien zum einen, »dass der Betroffene krankheitsbedingt nicht einsichtsfähig ist oder sich nicht einsichtsgemäß
verhalten kann«, und dass vor der Behandlung »der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch« unternommen wurde, »seine auf Vertrauen
gegründete Zustimmung zu erlangen«. Zum anderen, dass »der zu erwartende Nutzen« der Zwangsbehandlung »den möglichen Schaden einer Nichtbehandlung sowie die mit der Maßnahme verbundene
Beeinträchtigung deutlich überwiegt«. Dabei seien auch strenge Anforderungen an das Verfahren zu stellen, so seien vorab geplante Behandlungen anzukündigen, durch unabhängige Dritte vorab zu
prüfen und durch ärztliches Personal zu überwachen. Wenn eine Zwangsbehandlung aber allein dem Schutz der Grundrechte – also vor allem Leib und Leben – der untergebrachten Person diene,
müsse sie unterbleiben, wenn der Patient diese vorab, also im Zustand der Einsichtsfähigkeit, wirksam ausgeschlossen hat. LANDGERICHT REGENSBURG MUSS ERNEUT VERHANDELN Die zuvor mit dem Fall
befassten Gerichte – die Landgerichte Nürnberg -Fürth und Regensburg sowie das Oberlandesgericht Nürnberg – hätten vor allem diesen Punkt hier nicht bedacht. Obwohl sie von einer wirksamen
Patientenverfügung ausgingen, hätten sie damit »die Erklärung des Mannes vom 11. Januar 2015 hinter der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit des Beschwerdeführers und insbesondere
zur Herstellung seiner Entlassungsfähigkeit zurücktreten lassen«. Sie hätten es deswegen auch versäumt, zu prüfen, ob der Schutz anderer Patienten oder von Mitarbeitern einen solchen
Grundrechtseingriff im konkreten Fall rechtfertigen könnte. Die Karlsruher Verfassungsrichterinnen und -richter hoben mit ihrer Entscheidung die vorausgehenden Beschlüsse des Landgerichts
Nürnberg -Fürth und des Oberlandesgerichts Nürnberg sowie des Landgerichts Regensburg auf. Ihr Beschluss erging mit 7:1 Stimmen. Das Landgericht Regensburg muss die Sachverhalte nun neu
verhandeln. hip/kha/dpa/AFP