Philipp wollscheid im portrait

Philipp wollscheid im portrait

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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? Etwas


aufgeregt ist Siegmund Dewald schon, als er sagt, dass Philipp Wollscheid gleich da sein wird. Voller Stolz kündigt der erste Vorsitzende des SV Morscholz den berühmtesten Spieler an, der


jemals das blau-weiße Trikot seines Clubs getragen hat. Der Hochwald im nördlichen Saarland ist schließlich nicht gerade berühmt für seine Fußballer, und nun hat es einer von hier in den


Profibereich geschafft. Wollscheid wird im Sommer für fünf Millionen Euro von Nürnberg zu Bayer Leverkusen wechseln, und Dewald begeistern die Umstände einer Karriere, wie sie im modernen


Fußball eigentlich nicht mehr vorgesehen ist: "Solche wie ihn gibt es doch heute keine mehr, Philipp ist der letzte Straßenfußballer." Normalerweise denkt man beim Begriff


"Straßenfußballer" an trostlose Wohnbarracken, vor denen Kinder aus sozialschwachen Verhältnissen um die einzige Chance ihres Lebens kicken. Morscholz indes ist ein ruhiges


950-Seelen-Örtchen, in dem freundliche Menschen in hübschen Eigenheimen wohnen, deren Haustüren nur abends abgeschlossen werden. Nur, warum hat Wollscheid es von hier eigentlich in die


Bundesliga geschafft? Wie man heute Profi wird, ist inzwischen eigentlich fest vorgezeichnet. Über Dorfverein oder Stadtteilklub landet man bei einem der bundesweit 366 DFB-Stützpunkte und


spätestens mit 15 Jahren im Jugendleistungszentren eines Proficlubs. Wollscheid hingegen ist Fußballprofi auf einem Bildungsweg geworden, der heute aber fast vergessen ist. "Ich kann


nicht sagen, ob ich früher übersehen wurde oder ob ich einfach noch nicht so weit war", sagt er. WOLLSCHEID SOLLTE IN DIE SECHSTE LIGA ABGESCHOBEN WERDEN 23 Jahre alt ist er im März


geworden, doch selbst vor drei Jahren deutete noch nichts darauf hin, dass er es einmal in die Bundesliga schaffen würde. Damals war er mit dem 1.FC Saarbrücken auf dem Weg in die


Regionalliga, aber nach dem Aufstiegs sollte er in die zweite Mannschaft versetzt werden, die in der sechsten Liga spielte. So absurd einem das heute vorkommen mag, war es damals nicht. Auch


in der Jugend fiel sein Talent nirgends so auf, dass irgendwer ihm eine Bundesligakarriere vorausgesagt hätte. Doch was ist das eigentlich: Talent? Ist es ein großzügiges Geschenk des


Schicksals, das man nur auspacken muss? "Philipp hat früher stundenlang mit dem Ball gegen die Hauswand geschossen", erzählt Dewald, der gegenüber der Wollscheids wohnte. Wenn


Philipp nicht an der Hauswand kickte, ging er mit seinen Freunden auf dem Sportplatz und machte dort anschließend beim Training im Verein gleich weiter. Durch die in den letzten Jahren


eifrig betriebene Talentforschung wissen wir, dass man ungefähr zehntausend Stunden Übung braucht, um etwas herausragend zu beherrschen, sei es ein Musikinstrument oder den Umgang mit einem


Fußball. Da Philipp Wollscheid seit dem fünften Lebensjahr kickt und mit 21 Jahren sein erstes Bundesligaspiel machte, müsste er in all den Jahren im Schnitt täglich 100 Minuten Fußball


gespielt haben. Ganz so viel werden es nicht gewesen sein, aber sein Übungskontingent ist davon vermutlich so weit nicht entfernt. Doch das ist nur die quantitative Seite des Ganzen, der


Rohstoff eines Straßenfußballers. Es gibt jedoch auch eine qualitative, dass man auch ständig gefordert werden muss, um nicht zu stagnieren. Und da kommt Philipps Vater ins Spiel. "Wir


haben im Garten an den Schwächen gearbeitet, vor allem am Durchsetzungsvermögen", erzählt Stefan Wollscheid. Dass er heute beidfüßig ist, schreibt Philipp Wollscheid auch seinem Vater


zu, denn seinen linken Fuß hätten sie unablässig trainiert. "ER WURDE IMMER GEFORDERT" "Ich hab es damals nicht als Training empfunden, wenn wir im Garten gespielt


haben", sagt er. Auch fand er es nicht belastend, wenn sein Vater in der Nachbarschaft einen neuen Club fand, in dem er mehr gefordert wurde als im vorherigen. So wenig wie er sich


daran störte, auf dem Bolzplatz vor allem mit Älteren zu kicken, spielte er vier Jahre lang im Verein zudem in einer höheren Altersklasse. "Er wurde immer gefordert", sagt sein


Vater. Und Philipp Wollscheid gefiel das, wie alle Jugendtrainer bestätigen. Auch sein Vater staunte, als Philipp immer wieder jede neue Hürde nahm, schließlich selbst die in die Bundesliga.


In Nürnberg wurde mit ihm ein Spieler zum Abwehrchef, der 18 Jahre alt werden musste, um zum ersten Mal in der Viererkette zu spielen. Aber vielleicht ist es ja das Geheimnis dieser


Karriere, dass Philipp Wollscheid an der heimischen Hauswand, im Garten mit dem Vater und in all den Amateurclubs vor allem ein Talent entwickelte: die Bereitschaft zu lernen. Vermutlich


gibt es von Spielern wie ihm da draußen in der vierten oder fünften Liga noch etliche, die es in die Bundesliga schaffen würden, weil sie genug Stunden geübt haben, aufopferungsvolle


Förderer hatten und die unbedingte Bereitschaft zum Lernen mitbringen. Aber wer macht sich im Zeitalter der Talentfabriken noch die Mühe, nach ihnen Ausschau zu halten? Bis vor ein paar


Jahren konnte man sich nicht vorstellen, dass 19-Jährige in der Bundesliga schon Leistungsträger sein könnten und heute glaubt man, dass nur die Eliteausbildung in die Spitze führt. Insofern


hat Philipp Wollscheid den Proficlubs den Hinweis auf eine vergessene Welt gegeben, die der Straßenfußballer mit den krummen Bildungswegen.