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KARLSRUHE. WAS MUSS EIN LEHRER IM NOTFALL TUN? DER BGH PRÜFT EINEN TRAGISCHEN FALL AUS HESSEN. EIN SCHÜLER KOLLABIERTE IM SPORTUNTERRICHT UND ERLITT IRREVERSIBLE HIRNSCHÄDEN. ES HÄTTE
VERHINDERT WERDEN KÖNNEN, MEINT DER KLÄGER. Ein 18-Jähriger hat beim Aufwärmen im Schulsport Kopfschmerzen, er sackt an einer Wand zusammen, ist nicht mehr ansprechbar. Die Lehrerin
alarmiert den Notarzt. Doch bis der kommt, vergehen wertvolle Minuten. «Beim Eintreffen des Notarztes bereits achtminütige Bewusstlosigkeit ohne jegliche Laienreanimation», heißt es im
Klinikbericht. Der Schüler erleidet schwerste Hirnschäden durch Sauerstoffmangel. Inwiefern haben die Lehrerin und ein ebenfalls anwesender Kollege schuld am Schicksal des Jungen und wer
haftet? Das prüft der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag (ab 10.00 Uhr) an einem sechs Jahre alten Fall aus Wiesbaden. (Az. III ZR 35/18) _Worum genau geht es vor dem BGH?_ Der frühere
Schüler macht Amtshaftungsansprüche gegen das Land Hessen wegen unzureichender Erste-Hilfe-Maßnahmen durch die beiden Lehrer geltend. Er fordert mindestens 500.000 Euro Schmerzensgeld, gut
100 000 Euro für die Erstattung materieller Schäden, eine monatliche Mehrbedarfsrente von etwa 3000 Euro sowie die Feststellung, dass Hessen auch für künftige Kosten aufkommen soll. _Warum?_
Der damalige Gymnasiast erlitt bei dem Vorfall im Januar 2013 irreversible Hirnschäden durch mangelnde Sauerstoffversorgung. Er ist zu 100 Prozent schwerbehindert – weil die Lehrer
Herzdruckmassage und Atemspende unterlassen hätten, behauptet der Kläger. _Was haben die Lehrer unternommen?_ Die Sportlehrerin alarmierte per Notruf die Rettungsleitstelle. Sie brachte den
Schüler nach deren Anweisung in die stabile Seitenlage. Sie hatte sich allerdings nicht vergewissert, ob der Schüler noch atmete. Ihr Kollege fühlte nur den Puls. Wiederbelebungsmaßnahmen
gab es erst durch Sanitäter und den Notarzt. _Wie urteilten die Vorinstanzen?_ Vor dem Landgericht Wiesbaden und später vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt blieb der Kläger erfolglos:
«Es kann nicht festgestellt werden, dass sich etwaige Pflichtverletzungen des Lehrpersonals im Rahmen der Hilfeleistung kausal auf den Gesundheitszustand des Klägers ausgewirkt haben.» Nur
wenn die Atmung bereits vor Erscheinen der Rettungskräfte aussetzte, hätten die Lehrer Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten müssen. Das sei nicht nachweisbar. Die Berufung wurde
zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision vor dem BGH. _Wie ist die Rechtslage?_ Zur Hilfe bei Unglücksfällen ist jeder verpflichtet. Bei unterlassener Hilfeleistung droht nach dem
Strafgesetzbuch (StGB, § 323c) bis zu ein Jahr Haft oder Geldstrafe. Beamtete Lehrer haften nach Angaben des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zusätzlich nach § 839 BGB in Verbindung mit
Artikel 34 Grundgesetz, wenn sie ihre Amtspflicht verletzen. Die Verantwortung – Amtshaftungsanspruch – übernimmt für sie jedoch der Staat. «Nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit kann
der Lehrer in Regress genommen werden», sagt Thomas Summerer, Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses der DAV-Arbeitsgemeinschaft Sportrecht. _Was müssen Lehrer im Notfall tun?_ Nach
den Schulgesetzen der Länder haben sie eine Aufsichtspflicht. Die kann – bei aussetzender Atmung eines Schülers – Reanimation durch Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung einschließen,
sagt DAV-Experte Summerer. «Ein Lehrer kann sich nicht auf den Notarzt verlassen.» _Inwiefern sind Lehrer auf Notfälle vorbereitet?_ Viele Bundesländer sehen Regelungen für Erste Hilfe vor,
sagt Udo Beckmann, Bundeschef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Verpflichtend – wie seit Dezember 2013 für Sportlehrer in Hessen – ist dies jedoch nicht überall. Die GEW plädiert
für regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse, die der Schulträger bezahlt. _Inwiefern hat der Fall grundsätzliche Bedeutung?_ «Auf den ersten Blick ist es ein trauriger Einzelfall», sagt Sportrechtler
Summerer. Der BGH könnte aber Grundsätzliches zu den Handlungspflichten eines Lehrers sagen. _Wie groß ist die Chance auf Schmerzensgeld durch das Land?_ Der Kläger müsste eine
Pflichtverletzung der Lehrer nachweisen. Die läge vor, wenn die Atmung schon vor Ankunft des Notarztes ausgesetzt hat. Der BGH muss deshalb prüfen, ob das OLG die Beweisaufnahme richtig
gewertet und die Beweislast richtig verteilt hat. Fraglich könnte auch sein, ob das OLG die Rolle des zweiten Lehrers genügend berücksichtigt hat. _Gibt es vergleichbare Urteile?_ Der Fall
erinnert an ein tragisches Geschehen in Höhr-Grenzhausen (Rheinland-Pfalz): Eine Zwölfjährige hatte sich im Jahr 2010 in einem Naturbad im Seil einer Boje verfangen. Sie war minutenlang
unter Wasser und erlitt irreparable Hirnschäden. Anstatt sofort zu handeln, hatte der Bademeister zunächst einen Jugendlichen nachschauen lassen. Bei einem grob fahrlässigen Pflichtverstoß
greift die Beweislastumkehr, entschied der BGH Ende 2017 und hob ein Urteil des Landgerichts Koblenz auf (Az.: III ZR 60/16). Die Vorinstanzen hatten ähnlich wie im aktuellen Fall
argumentiert: Es sei nicht bewiesen, ob das Mädchen bei schnellerer Rettung nicht genauso schwer behindert gewesen wäre. _Von Susanne Kupke, dpa_ DER BEITRAG WIRD AUCH AUF DER FACEBOOK-SEITE
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