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Über 2000 Auftritte hatte „Paul Geigerzähler“ in Berlin und weltweit. Nun feiert er 20-jähriges Jubiläum und erzählt über die autonome Szene und die Frage: Was geht noch in der Rigaer
Straße? Einen besseren Treffpunkt für dieses Gespräch mit „Paul Geigerzähler“ als die „Bäckerei 2000“ gibt es wohl nicht: Der Musiker sitzt am Fenster mit einem Club-Mate und schaut auf die
zwei ehemals besetzten Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Rigaer Straße ist nach wie vor eine Hochburg der linksextremen Szene, wenn auch nicht mehr ganz so aktiv wie
früher, als hier regelmäßig Autos brannten und es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Geigerzähler war dabei, seit 20 Jahren begleitet der 46-Jährige die Rebellion in Berlin mit
seiner Musik. Ein Gespräch darüber, was sich in der linken Szene und der Rigaer Straße verändert hat – und natürlich über Musik und Konzerte, die etwas aus dem Ruder liefen. Über 2000
Auftritte waren es für ihn in den letzten 20 Jahren. Das Jubiläum feiert er mit einer neuen Schallplatte: „20 Jahre dagegen“, aufgenommen mit der „Attitüden Plattitüden Showband“.
Release-Konzert war im „Supamolly“ in Friedrichshain, einer Bar in einem der letzten noch aktiven Wohnprojekte in ehemals besetzten Häusern. Empfohlener redaktioneller Inhalt An dieser
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Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können. Seinen richtigen Namen möchte Geigerzähler nicht veröffentlicht sehen. Lange hat er in der Nähe vom Hausprojekt „Rigaer 94“ gewohnt.
Das leerstehende Haus wurde 1990 besetzt, ebenso wie viele Gebäude im Osten Berlins. Noch ist es da, nach langwierigen Rechtsstreits mit dem Eigentümer. Geigerzähler ist nun umgezogen, in
einer Genossenschaft, und achtet darauf, die Ruhezeiten einzuhalten, gelegentlich wird es seinen Nachbar:innen zu laut. „Aber ich muss schon üben“, sagt er und lacht. Seit er sieben Jahre
alt ist, spielt er Geige. Als Jugendlicher wollte er lieber Punker werden und ließ das eher für die Klassik vorgesehene Streichinstrument eine Zeitlang links liegen. „Aber natürlich geht
Punk auch mit Geige“, habe er dann festgestellt. Die E-Verstärkung müsse natürlich schon sein, für Effekte und einen „schräbbelig-punkigen Sound“. Seine Kombination aus Geige und Gesang gibt
es selten und seine selbstgeschriebenen Lieder machen ihn zum „Singer-Songwriter“. „Gefahrengebiet“ heißt sein Lied über die Rigaer Straße. „Im Gefahrengebiet gibt’s manchmal Kaffee und
Kuchen, ihr solltet uns wirklich mal besuchen“, heißt es da. Beides gibt es bei der „Bäckerei 2000“. „Das sind Verbündete“, sagt Geigerzähler. Als es vor fünf Jahren zu Belagerungen eines
Hausprojektes kam, weigerte sich die Bäckerei, Kaffee für Polizist:innen zu verkaufen und schlug sich damit auf die Seite der linken Demonstrierenden. Ebenso Geigerzähler, der mit besetzte,
demonstrierte, musizierte. Mit 13 Jahren kam er aus dem sächsischen Bautzen nach Berlin. Seine Mutter war Sorbin. „Ich identifiziere ich heute eher als sorbisch als deutsch“, sagt er. In
Berlin schmiss er die Schule und ging in die Hausbesetzerszene. Seit den später 90er Jahren ist er als „Paul Geigerzähler“ unterwegs, 2004 wurde das erste Album aufgenommen mit dem Titel
„dagegen“. Er orientierte sich an der Band „Die Goldenen Zitronen“ und spielte Konzerte in Brandenburg, Sachsen, Polen, Ukraine, Belarus und Israel sowie Palästina. VORBILD: DIE GOLDENEN
ZITRONEN In Erinnerung geblieben ist sein Auftritt auf dem Festival „Räubertage“ in Sachsen: Als dort plötzlich der Strom ausfiel, war er der einzige, der mit seiner Geige noch unverstärkt
weiterspielen konnte und alle Besucher:innen strömten zu ihm auf die Nebenbühne. Das war vor 15 Jahren. So chaotisch geht es bei Geigerzähler nicht mehr zu, obwohl er sich auch weiterhin als
Anarchisten bezeichnet und von der autonomen Szene nicht abgrenzt. Um die Rigaer Straße ist es ruhiger geworden, für Geigerzähler ist sie noch immer ein Symbol. „Sie ist heute allerdings
isolierter in der Stadtgesellschaft und weniger eingebunden in soziale Projekte. Aber das mag meine alteingesessene Sicht sein“, ergänzt er. Die linke Szene streite sich über den
Israel-Krieg und sei jünger geworden. „Viele Leute können sich hier die Mieten einfach nicht mehr leisten“, sagt er dann etwas lauter. „Was in der Rigaer und ganz Berlin geschieht, das ist
nicht mehr schön.“ Viele der Wohnungen im Kiez hatten 30 Jahre lang Sozialbindung, wurden also von der Stadt geschützt. Das fällt Ende dieses Jahres weg, mehr als 2600 Mieter:innen in ganz
Friedrichshain-Kreuzberg drohen Mieterhöhungen und Eigenbedarfskündigungen. Geigerzähler berichtet von Bekannten, die bereits ausziehen mussten oder die Miete nur noch schwer bezahlen
können. „Dadurch wird sich die Rigaer Straße nochmal ändern, es wird einen Austausch der Mieter:innen geben“, ist er sich sicher. „Aber die Straße wird immer ein Symbol linker Bewegungen
bleiben.“